Die ersten Zeugnisse über die Schöpfungsmythen findet man in den Pyramidentexten aus dem Ende des Alten Reiches und in den Sargtexten aus dem Mittleren Reich, die vermutlich aus einer wesentlich früheren Epoche stammen.

In den Schöpfungsmythen wird die Entstehung des Kosmos erklärt und wie aus der "Nicht-Existenz" eine Urkraft entstand und aus dieser wiederum die Schöpfung entsprang.

Die Kosmogonie von Heliopolis
Die Kosmogonie von Hermupolis
Die Kosmogonie von Memphis
Die Kosmogonie von Theben



Die Kosmogonie von Heliopolis

Dem Mythos nach war am Anfang nichts als eine unendliche, regungslose Wasserfläche, die als Nun bezeichnet wurde. Nach der Erschaffung der Welt existierte dieses Urwasser jenseits des Universums weiter und drohte, eines Tages zurückzukehren, um die Welt zu vernichten und den Zyklus der Schöpfung erneut in Gang zu setzen.

Der Gott Atum entstieg mit Hilfe magischer Kräfte dem unendlichen Urgewässer Nun und schuf den Urhügel, auf dem er sich niederließ.

Da der Schöpfergott Atum als "Ganzheit" alles in sich vereinte, war er in der Lage, andere Gottheiten aus sich selbst zu erschaffen. In der ersten Version dieses Mythos zeugte Atum mit Hilfe seiner Hand aus seinem Samen zwei Kinder und in der zweiten Version erzeugt Atum den Luftgott Schu durch Niesen und die Göttin Tefnut durch Ausspucken.

Die beiden Gottheiten wurden durch Nun aufgezogen und vom Auge des Atum beaufsichtigt, das er von seinem Körper trennen konnte. Um das sogenannte Udjat-Auge rankt sich folgende Geschichte aus der Kindheit von Schu und Tefnut:

Als Atum eines Tages seine beiden Kinder im endlosen Urgewässer Nun verloren hatte, schickte er sein Auge, um nach ihnen zu suchen. In der Zwischenzeit ersetzte er es durch ein strahlenderes Auge, was dem ersten Auge bei seiner Rückkehr mit den Kindern mißfiel. Deshalb plazierte Atum es an seiner Stirn, wo es über die Welt wachen konnte, sobald Atum sie erschaffen hatte. Später wurde es der Schlangengöttin zugeordnet, die als Uräusschlange von den Pharaonen an ihrer Stirn getragen wurde.

Einer anderen Geschichte zufolge war Atum so glücklich über die Rückkehr seiner Kinder, daß er vor Freunde weinte und mit diesen Tränen die Menschheit schuf.

Aus der Vereinigung von Schu und Tefnut gingen die Himmelsgöttin Nut und der Erdgott Geb hervor.

Die Geschwister Nut und Geb zeugten vier Kinder - die Götter Osiris und Seth mit ihren Gefährtinnen Isis und Nephthys. Aus dem Urgeschöpf Nun war somit eine Götterfamilie mit neun Gottheiten, die sogenannte Neunheit von Heliopolis, hervorgegangen. Die nächste Generation entstand, als Osiris und Isis ihren Sohn Horus zeugten.

Nachdem Geb und Nut ihre Kinder gezeugt hatten, wurde Nut durch Schu von ihrem Gemahl für immer getrennt. Darstellungen zeigen, wie sich der Himmel in Gestalt der Nut über die durch Geb verkörperte Erde wölbt und dabei vom Luftgott Schu gestützt wird, der so Himmel und Erde auseinanderdrückt, um einen Platz für die Luft zu schaffen.

Indem Nut die Erde mit ihren Händen und Füßen an den Punkten der vier Himmelsrichtungen nach unten drückt, trennt sie die Erde vom urwasser Nun. Sie erscheint meist in Frauengestalt, verziert mit Sternen, wird aber auch bisweilen als Kuh dargestellt. Die alten Ägypter glaubten, daß der Sonnengott Re jeden Abend von der Göttin Nut verschlungen wurde und in den Nachtstunden den Leib der Himmelsgöttin durchlief, um bei Tagesanbruch von ihr wiedergeboren zu werden, wenn der rote Himmel im Osten das bei der Geburt verlorene Blut widerspiegelt.

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Die Kosmogonie von Hermupolis

Diese Kosmogonie reicht vermutlich noch weiter zurück als der Schöpfungsmythos von Heliopolis und basiert auf der Urmaterie in Form einer grenzenlosen, unbelebten Wasserfläche, die vor der Erschaffung der Welt existierte und den chaotischen Zustand des "Nicht-Seins" vor der Schöpfung verkörperte. Der Mythos besagt, daß vier Gottheiten sowie ihre weiblichen Gegenstücke aus diesem Urwasser entstanden oder selbst die Elemente dieser Urmaterie personifizierten. Diese waren Nun und Naunet, das Urgewässer, Hah und Hauhet - deren namen meist mit Endlosigkeit und Ewigkeit gleichgesetzt wurden, abe tatsächlich die Kraft der Überschwemmung symbolisierten; Kuk und Kauket als Sinnbild der Finsternis sowie Amun und Amaunet, deren Namen eine ganze Reihe von Aspekten abdeckten: wie Unsichtbarkeit, verborgene Kraft, Luft oder Wind.

Diese acht Gottheiten bildeten die Achtheit von Hermupolis. Die vier Götter wurden mit Froschköpfen und die Göttinnen mit Schlangenköpfen dargestellt. Sie wurden also Kreaturen zugeordnet, die alljährlich aus dem Schlamm und Schlick der Nilüberschwemmung neu entstanden.

Im Schöpfungsmythos von Hermopolis erscheint das Urgewässer Nun als Personifizierung der Urmaterie, während es in der Lehre von Heliopolis lediglich ein Element der Urmaterie, nämlich das Wasser, darstellt. Unter den anderen Gottheiten besaß nur eine - Amun - die verborgene, potentielle Kraft, das kosmische Chaos aufzulösen, das aus den dunklen, bewegungslosen Fluten die Schöpfung hervorbrachte.

In diesem finsteren Gewässer entstand das kosmische Ei, aus dem deas Sonnenlicht erstrahlte, als es zerbrach. Einer anderen Version zufolge, wurde das Ur-Ei von einer Nilgans gelegt, die den Großen Urgeist in Form des "großen Schnatterers" verkörperte und deren Geschrei die Urstille als erstes durchdrang. Eine eher unbekannte Geschichte erzählt, daß der Gott Thot in Gestalt eines Ibis mit dem Ei zum Urhügel flog. An dieser Stelle gibt es wiederum zwei Ausführungen, die eine besagt, daß der Sonnengott Re als Lichtvogel aus dem Ei schlüpfte, in der anderen heißt es, daß die Luft, die aus dem Inneren des Eis entwich, den Himmel von der Erde trennte und den Lebenshauch für die entstehende Schöpfung spendete.

Eine erste explosive Energie soll den Urhügel ausgeschleudert haben, der als "Flammeninsel" bezeichnet wurde, da sich dort die Geburt des Sonnengottes vollzog und der Kosmos Zeuge des ersten glühenden Sonnenaufgangs wurde. Erst später wurde der Urhügel mit der Stadt Hermopolis gleichgesetzt.

Drei Götterpaare der Achtheit blieben unbeteiligt in der Urmaterie zurück und waren lediglich für die Nilüberschwemmungen und die Sonnenaufgänge zuständig. Nur Amun, die verborgene und unergründliche Kraft, spielte als Schöpfergott eine bedeutende Rolle und nahm vor allem in Theben einen wichtigen Platz ein, nachdem sich die Stadt zu einer großen Kultstätte entwickelt hatte.

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Die Kosmogonie von Memphis

Der Schöpfungsmythos von Memphis formuliert die These, daß die Welt durch den Schöpfergott Ptah geschaffen wurde, der eins war mit dem Urgewässer Nun und der mit seinen Schöpferorganen Herz und Zunge die Götterneunheit von Heliopolis hervorbrachte. In den Augen der alten Ägypter verkörperte das Herz den Geist, der die Gedanken formte, und die Zunge diente der Steuerung der Worte und folglich der Befehle, die letztendlich das Handeln bestimmten. Da Namen und Bezeichnungen eine elementare Bedeutung hatten, waren die Ägypter davon überzeugt, die Götter durch den Vorgang der Namensgebung zum Leben erweckt zu haben.

Ptah rief alle anderen Gottheiten ins Leben, unter ihnen auch Atum. Der Theorie von Memphis zufolge führte Atum mit seinen Schöpfungshandlungen also lediglich die Anweisungen des Ptah aus, der daher als Ursprung aller Schöpfung angesehen wurde. Nachdem er die Götter erschaffen hatte, wies er ihnen Kultstätten zu, an denen sie verehrt wurden. Er brachte nicht nur die gegenständliche Welt hervor, sondern begründete auch moralische Wertvorstellungen. Außerdem errichtete er in Ägypten ein politisches System, indem er das Land in Bezirke unterteilte. Ptah blieb jedoch in erster Linie der große Bildner und galt zudem als "Herr der Wahrheit".

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Die Kosmogonie von Theben

Amun, der auch in den Mythen von Hermupolis eine Rolle spielt, wurde mit der Luft als einer unsichtbaren, dynamischen Kraft in Verbindung gebracht, wodurch man ihn leicht mit der Macht des höchsten und unsichtbaren Schöpfers identifizieren konnte. Die Lehre von Theben vereinigte in Amun Aspekte aller anderen Schöpfergottheiten. Man erklärte, daß Theben die erste Stadt war, nach deren Muster später alle anderen angelegt wurden. Dort war die Gegend des ersten Wassers, Nun, und des ersten Landes, des Urhügels. Die Stadt wurde auf dem Hügel gegründet, und so begann die Welt. Dann wurden die Menschen geschaffen, die andere Städte gründen sollten. Theben war das Auge des Re und beaufsichtigte alle anderen Städte.

Wie Atum schauf auch Amun sich selbst; es gab keinen anderen, der ihn hätte schaffen können, und er hatte weder Vater noch Mutter. Er war unsichtbar, und im geheimen wurde er geboren. Alle anderen Götter traten ins Leben, nachdem er die erste schöpferische Tat vollendet hatte. So wie von Ptah behauptet wurde, daß andere Götter gleichsam Facetten seiner göttlichen Natur seien, so wurden ganze Kosmogonien zu Aspekten oder Phasen der schöpferischen Tätigkeit des Amun von Theben erklärt. Es hieß z.B., die erste seiner Formen sei die Achtheit von Hermupolis gewesen, seine nächste Gestalt Tatenen, der Urhügel von Memphis, und als dieser habe er die ersten Götter erschaffen. Danach habe Amun die Erde verlassen, um als Re im Himmel zu wohnen. Auch die Gestalt des göttlichen Kindes habe er angenommen, das mitten in Nun durch das Öffnen der Blütenblätter des Lotos enthüllt worden sei. Amuns Augen erhellten die Erde, wie die des Re oder Horus. Gleich Thot war Amun der Mond. Er bildete die Menschen und schuf die Götter, er gab der Neunheit ihre Ordnung und stellte die Mitglieder der Achtheit als seine göttlichen Väter und Priester auf, mit Schu an der Spitze und Tefnut als Konkubine des Gottes. Wie in den Glaubensvorstellungen von Hermupolis stellte auch in der thebanischen Lehre Amun die Lebenskraft dar, die Nun aus der Trägheit erlöste und den Schöpfungszyklus in Gang setzte.

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